Dr. h.c. Erich Loest

Preisträger 2002 der Karl-Preusker-Medaille

Die Deutsche Literaturkonferenz verleiht diese Auszeichnung

Herrn Erich Loest

Erich Loest ist einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Mit seinem Namen ist auch die politische Wende in der Geschichte Gesamtdeutschlands Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre auf das Engste verbunden. Für seine schriftstellerischen Leistungen und sein parteiunabhängiges bürgerschaftliches Engagement ist Erich Loest vielfach ausgezeichnet worden. Mit der Verleihung der Preusker-Medaille ehrt die Deutsche Literaturkonferenz Loests seit Jahren andauerndes Engagement zur Verbesserung der Situation der Öffentlichen Bibliotheken. Loest hat in Diskussionen, bei Lesungen und Veranstaltungen im kleinen, lokalen Rahmen wie überregional in der Presse und in den Medien auf die problematische Situation Öffentlicher Bibliotheken aufmerksam gemacht.

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Urkunde

Erich Loest ist einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Mit seinem Namen ist auch die politische Wende in der Geschichte Gesamtdeutschlands Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre auf das Engste verbunden. Für seine schriftstellerischen Leistungen und sein parteiunabhängiges bürgerschaftliches Engagement ist Erich Loest vielfach ausgezeichnet worden.

Mit der Verleihung der Preusker-Medaille ehrt die Deutsche Literaturkonferenz Loests seit Jahren andauerndes Engagement zur Verbesserung der Situation der Öffentlichen Bibliotheken. Loest hat in Diskussionen, bei Lesungen und Veranstaltungen im kleinen, lokalen Rahmen wie überregional in der Presse und in den Medien auf die problematische Situation Öffentlicher Bibliotheken aufmerksam gemacht.

Insbesondere würdigt die Deutsche Literaturkonferenz die Initiativen von Erich Loest und seiner Familie unter dem Motto „Helft den Bibliotheken“. Seit dem November 2000 las Erich Loest aus seinem Roman „Reichsgericht“ an verschiedenen Orten. Die Erlöse aus diesen Lesungen sowie aus der Versteigerung des Originalmanuskriptes kamen unter anderem den Bibliotheken in Leipzig und Chemnitz zugute. Hinzu traten Spenden zahlreicher Betriebe und Privatpersonen. Die Aktionen Erich Loests haben aktuell vor dem Hintergrund der Flutkatastrophe noch eine besondere Bedeutung bekommen.

Die Deutsche Literaturkonferenz dankt Erich Loest wie seiner Familie im Namen der deutschen Bibliotheken für seine Initiativen und wünscht sich und den Bibliotheken, dass dieses Beispiel Schule mache.

Die Deutsche Literaturkonferenz,
welche im Gedenken an Karl Benjamin Preusker,
den Pionier der Volksbüchereibewegung,
Gründer der ersten deutschen Bürgerbibliothek 1828
im sächsischen Großenhain, die
Karl-Preusker-Medaille
gestiftet hat, verleiht diese AuszeichnungHerrn Dr. h.c. ERICH LOESTin Würdigung seiner Verdienste um die Öffentlichen Bibliotheken
in Deutschland und insbesondere in Anerkennung seiner Initiativen
wie der seiner Familie zugunsten sächsischer Bibliotheken.

Berlin, den 24. Oktober 2002

Für die Deutsche Literaturkonferenz
Jens Sparschuh
Dr. Georg Ruppelt

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Wozu sind Bücher gut?
Laudatio auf Erich Loest am 24.10.2002 in Leipzig aus Anlass der Verleihung der Karl-Preusker-Medaille

Richard Schröder

„Wissen ist Macht“, hat Francis Bacon gesagt und so gesehen sind Bücher oft Machtmittel. Der Satz ist in der DDR oft zitiert worden. Der Satz ist ja auch nicht verkehrt und es gibt tatsächlich viele Bücher die Machtmittel sind. Ich nenne sie die Know-how- Bücher. Als ich den Führerschein erworben hatte – er hieß damals Fahrerlaubnis, damit wir nicht an den Führer erinnert werden, antifaschistische Schrullen waren das -, lieh unser Vater uns drei Brüdern sein Auto, einen alten DKW F6 für eine Zelttour in die Tschechoslowakei. Aber vorher musste und wollte ich mir mittels eines Lehrbuches für KFZ- Schlosser das notwendige Wissen über Zündung und Vergaser erwerben, um nicht ganz ratlos dazustehen, wenn das Auto plötzlich stehen bleibt. Außerdem wurde ich mit einem Satz üblicher Ersatzteile ausgestattet.

Bücher können in noch anderer Weise Machtmittel sein, Machtmittel der Indoktrination. Auch das hat jeder DDR-Bürger erlebt. „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist“, dieser Satz von Lenin verhieß Allmacht denen, die die Klassiker eifrig studierten und anwandten, meist aber nicht im Original, das höchstens seitenweise, es konnte sonst zu unwillkommenen Irritationen kommen, sondern in Gestalt offiziell abgesegneter Lehrbücher des Marxismus-Leninismus, die allerdings eine niedrige Halbwertzeit hatten, weil sie umgeschrieben wurden, wenn sich die Parteilinie änderte. Auch diese Lehrbücher sollten Know-how-Bücher sein, indem sie nämlich die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft vermittelten, durch die der Mensch seine eigene Entwicklung planmäßiger gestaltet. Genauer besehen aber zerfiel „der Mensch“ in wenigstens vier Menschen: die führende Partei, die geführten Massen und die Klassenfeinde. Die vierte Klasse, das waren diejenigen, die sich zwar als Führer und Dirigenten beim Aufbau des Sozialismus fühlten, der führenden Partei zugehörig, in Wahrheit aber Geführte waren. Solange sie spurten, konnten sie sich der Teilhabe an der Macht erfreuen. Aber wehe, wenn sie in Ungnade fielen. Dann fielen sie tief, nämlich in die Klasse der Klassenfeinde. Und trotzdem haben auch sie oft noch lange gebraucht bis sie merkten: ich bin verführt worden. Womöglich hat es die erste Klasse gar nicht gegeben, die Führer und Dirigenten, womöglich waren sie alle verführte Führer, nur mit dem Unterschied, dass die einen es ahnten oder gar wussten, die anderen nicht. Denn die Partei, die immer Recht hatte, das war ja ein seltsames Abstraktum, geführt von Rechthabern, die über Nacht abstürzen konnten, wenn andere Machthaber die Oberhand bekamen.

Sie, Herr Loest, haben das alles am eigenen Leib erlebt, und zwar mehrfach: plötzlich und unerwartet abzustürzen- ahnungslos und von der Sache des Sozialismus überzeugt, im Glauben, ihm zu dienen, plötzlich beschuldigt: 1950, nach dem Buch „Jungen, die übrig blieben“ beschuldigt der Standpunktlosigkeit und kleinbürgerlichen Gesinnung und aus der Redaktion der LVZ gefeuert; 1953 nach dem Aufsatz „Elfenbeinturm und Rote Fahne“, in dem Sie nach dem 17. Juni die sozialistische Presse wohlmeinend, als Sozialist, kritisiert haben, die innerparteilichen Lobhudeleien, wer Beifall klatscht, gilt als fortschrittlich, wer eine Maßnahme nicht versteht, als Mensch zweiter Klasse mit verkehrtem Bewusstsein und Missstände wurden permanent verschwiegen. Da galten sie als faschistischer Provokateur. Und 1957, als Sie sich mit polnischen Kommunisten getroffen hatten und auf Gomulka die Hoffnung setzten, Polen werde einen eigenen Weg zum Sozialismus gehen, weg vom stalinistischen Unrechtsstaat und zur sozialistischen Demokratie; als sie sich weigerten, sich von Ihrem Freund Zwerenz zu distanzieren, und das Verbrechen gestanden, nach dessen Flucht seine Frau und seine Kinder unterstützt zu haben, wurden sie wegen Bildung einer staats- und parteifeindlichen Gruppe zu 7 ½ Jahren Bautzen verurteilt.

Zurück zu den Büchern. Lehrbücher, wie das für KFZ-Technik sind nützlich und können einem aus der Klemme helfen, sie werden aber nicht geliebt. Auch Indoktrinationsbücher werden nicht geliebt. Kurz nach der Maueröffnung starteten der Volksbuchhandel und die DDR-Verlage ein gewaltiges Rückrufprogramm. Sie wussten offenbar genau, welche Bücher von jetzt an blamabel sind für den Verlag, vor allem nämlich die marxistisch-leninistische Schulungsliteratur. Manche Buchhändler und Bibliothekare haben so genau nicht zu unterscheiden gewusst und schließlich alle DDR-Bücher entsorgt. Im Grobmüll vor Kindergärten konnte man kistenweise Schallplatten sehen, darunter auch Grimms Märchen oder Peter und der Wolf. Jetzt komme ich zu den Büchern, die man wirklich lieben kann. Es sind diejenigen, die einem eine Welt eröffnen, die teilnehmen lassen an anderer Menschen Schicksalen und Erfahrungen und so oder so mir dazu verhelfen, auch mich selbst und meine Welt besser zu verstehen. Von der Art ist auch das Buch der Bücher, Bibel genannt, von griechisch biblios, das Buch.

Bücher, die man lieben kann, haben etwas mit Freiheit zu tun. Und ganz besonders haben bestimmte Bücher in einer Diktatur mit Freiheit zu tun, der verbotenen nämlich. Die SED wusste ganz genau, warum sie peinlich genau die Einfuhr von Druckerzeugnissen kontrollierte und weitgehend unterband und warum sie im eigenen Land eine Zensur ausübte, die strenger war als zur Zeiten der Monarchie. Auch das haben sie, Herr Loest, hart am eigenen Leibe erlebt, als Bücherschreiber. Die Kehrseite der Zensur: was verboten ist, macht uns gerade scharf. Der westliche Normalbürger kaufte ein Buch, von dem er hört, dass es wichtig ist, und stellt es erst mal ins Regal, bis er Zeit hat. Wenn wir im Osten zufällig über Freunde mal an eines der verbotenen Bücher kamen, mussten wir es sofort lesen, weil wir es schnell zurückgeben mussten. Ich weiß gar nicht, was aus mir geworden wäre in der DDR ohne die verbotenen Bücher. Ich wäre geistig verdorrt oder missbildet worden. So aber konnte ich, wenn schon die äußere Freiheit arg zu wünschen übrig ließ, noch die innere retten, die Kritikfähigkeit nämlich. Aber heute, könnte jemand einwenden, kann doch jeder jedes Buch kaufen oder ausleihen, und die Diktatur ist auch vorbei, verschone uns mit deinen DDR- Erinnerungen. Was damals galt über Bücher und Freiheit ist doch passé.

Irrtum.
In unseren Märchen geht es ja manchmal ziemlich grausam zu, wenn nämlich die Bösen ihre Strafe bekommen. Trotzdem bin ich nicht der Meinung, solche Märchen würden die Kinderseelchen verkrümmen. Dagegen bin ich fest überzeugt, dass Gewalt-Videos nicht nur auf Kinder und Jugendliche, sondern auch auf Erwachsene verderblich wirken – vielleicht mit der Einschränkung, dass da schon etwas verkorkst und verdorben sein muss, zuvor schon, wenn Menschen Gewaltszenen freiwillig genießen und dazu gar dauernd.

Es geht hier nämlich um den Unterschied zwischen Sehen und Hören. Denn Lesen ist ja eine Art optischen Hörens, weshalb wir Kindern zunächst vorlesen. Das Sehen ist unser distanzlos präsentierender Sinn. Im Hören und Lesen dagegen sind wir distanziert. Wir müssen das Gehörte uns selbst vergegenwärtigen, uns also ein bisschen anstrengen. Menschen, die Furchtbares erlebt und gesehen haben, können dadurch so geschockt, verstört und gestört sein, dass sie mit ihrem Leben nicht mehr zurecht kommen und sie können oft zunächst nicht darüber sprechen. Sie können das Erlebte nicht verarbeiten, wie man sagt. Verarbeiten- wie macht man das? Indem man lernt, darüber zu sprechen, das Erlebte durch Mund und Ohr gehen lassen, das befreit. Bilder des Furchtbaren machen betroffen-stumm oder betroffen-sprachlos. Reden und Hören und Lesen verschaffen Distanz und das verschafft Freiheit.

Und da ist noch ein anderes Moment im Spiel. Was wir sehen, das läuft wie es läuft- ob nun in Wirklichkeit oder am Bildschirm, ob wir mitkommen oder nicht. Beim Lesen bestimmen wir das Tempo. Wir können das Buch kurz beiseite legen und nachsinnen. Lesen fördert die Besinnung: zu sich selbst kommen.
Manche meiden das lieber oder fürchten das gar, wie jemand, der lieber in der Kneipe sitzt als zu Hause, weil es zu Hause furchtbar ungemütlich ist. Ja, manche Menschen haben Angst davor, zu sich zu kommen. Und: wer nicht liest, bleibt ein Fremdling in der eigenen Sprache. Wer sich schlecht ausdrücken kann, neigt dazu, sich durch Zuschlagen bemerkbar zu machen.

Ich bin mir ziemlich sicher: Jugendliche, die prügeln, Ausländer oder auch Be-hinderte, lesen keine Bücher. All das macht den Unterschied aus zwischen einer Videothek und einer Bibliothek oder zwischen einem Jugendlichen, der täglich stundenlang vor der Glotze sitzt oder einem, der täglich wenigstens ein Stückchen liest.

Ich möchte nicht Ihr literarisches Werk unter literarischen Blickpunkten würdigen, das würde mich überfordern. Ich möchte Ihnen aber meinen Respekt aussprechen für die Gründlichkeit und Ehrlichkeit, mit der Sie in Ihrem autobiographischen Arbeiten Ihren Weg durch zwei Diktaturen beschrieben haben, wie Sie zur inneren Freiheit gelangt sind in dem Moment, in dem Sie begriffen, mitverstrickt gewesen zu sein und nicht nur betrogen, wie Ihnen in der Auseinandersetzung in Ihrem Aufsatz „Elfenbeinturm und Rote Fahne“ der Widerspruch zwischen Gewissen und Partizipieren 1953 aufging.

Loest über Loest: „Hätte er nach 1945 mehr Zeit gefunden mit seinem Naziballast fertig zu werden, wäre ihm nicht zu schnell und zu pauschal vergeben worden, hätte er nicht zu flink Preisgabe zu einem wenn auch völlig anderen Ziel hin angestrebt, wäre ihm ein zweites Aufwachen erspart geblieben.“

Bei einer Lesung 1985 in Schönsee, 40 Jahre nach Kriegsende haben Sie davon berichtet, wie Sie einmal überzeugter HJ-Führer waren und Werwolf noch in den letzten Tagen des Krieges. Dann fragen Jüngere: „Als Sie damals gezwungen wurden…“, „Nein, sagte ich, ich habe das alles freiwillig gemacht.“ „Ja, sagte ich, ich habe die Nazi-Propaganda bis zum letzten Tag geglaubt.“ Die Jungen wollten es einfach nicht glauben, dass es das massenhaft gab. Sie haben keine Ahnung vom Innenleben einer Diktatur. Sie können sich nur blutrünstige Täter und gezwungene Opfer vorstellen. Und die Älteren schweigen. Sie springen Ihnen nicht bei. Sie sind noch immer nicht bereit, zuzugeben, inwieweit auch sie damals Verführte waren. Deshalb, glaube ich, wehren sich so viele in Ost und West gegen den Vergleich der zwei deutschen Diktaturen. Sie wollten nicht wahrhaben, wie groß die Verführungskraft einer totalitären Ideologie auf ganz „anständige“ Menschen sein kann, auf Menschen wie du und ich. Deshalb müssen Nazis Ungeheuer gewesen sein und die DDR war doch gar nicht so schlecht.

Sie, Herr Loest, wissen das alles, Sie kennen den Unterschied zwischen nützlichen, den schädlichen und den liebenswerten Büchern und haben selbst die Zahl der liebenswerten Bücher durch eigene vergrößert. Dafür sind Sie bereits mit mehr als einem Dutzend Preisen geehrt worden und mit zwei Ehrendoktoren dazu. Sie haben die Freiheit des Wortes in der Diktatur praktiziert und dafür siebeneinhalb Jahre in Bautzen absitzen müssen. Sie gehören zu den wenigen Schriftstellern aus der DDR, denen der Fall der Mauer nicht die Sprache verschlagen hat. Es sind sehr wenige. Sie waren ja ein ost-westdeutscher Schriftsteller geworden längst vor dem Fall der Mauer. Seit 1981 lebten Sie im Westen und 1990 sind Sie nach Leipzig zurückgekehrt. Das hat Sie in den Stand gesetzt, sich unbefangen zur deutschen Einigung zu Wort zu melden, unbefangen deutlich in Richtung der DDR-Nostalgiker, die dem Mief der Wohnküche nachtrauern, unbefangen deutlich aber auch im Blick auf die Defizite der letzten zwölf Jahre, in Zeitungsartikeln, im Gespräch mit Politikern. Auch für Ihr politisches Engagement sind sie vielfach geehrt worden, durch zwei deutsche und einen polnischen Verdienstorden und zwei Ehrenbürgerschaften.

Heute möchten wir Sie dafür ehren, dass Sie sich außerdem noch für das Lesen verdient gemacht haben. Der königlich sächsischen Rentamtmann Karl Benjamin Preusker hat 1828 in Großenhain eine Schulbibliothek eingerichtet, aus der die erste öffentliche Bibliothek Deutschlands wurde. Sie haben, zunächst hier in Leipzig, eine Initiative auf den Weg gebracht, die den Stadtbibliotheken aufhelfen soll, erst einmal 1000,- DM für jede, wohlgemerkt ausschließlich für die Anschaffung von Büchern, beschafft durch Benefiz-Lesungen und durch Aufrufe, es möchten sich doch diejenigen, die gut Geld haben, sich der öffentlichen Bibliotheken annehmen – wenn denn die öffentliche Hand sträflicherweise vor allem bei der Kultur spart. Und siehe da, für Leipzigs Bibliotheken kamen so im Jahr 2000 27.000 DM und dazu Bücher im Wert von 17.000 zusammen. Auch Gutes kann ansteckend wirken. Den Chemnitzer Bibliotheken stiftete die Hypo-Vereinsbank daraufhin 10.000 DM für den Ankauf von Büchern.

Sich um öffentliche Bibliotheken kümmern, Bücher für jeden, auch für die, die knapp bei Kasse sind, das ist weder bei Schriftstellern noch bei Politikern selbstverständlich – anders bei Erich Loest. Dafür hat Sie bisher noch niemand geehrt, das geschieht jetzt mit vollem Recht.

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Dankrede aus Anlaß der Verleihung der Preusker-Medaille 2003

Schiller und wir
Erich Loest

Vor Jahren, als ich einen polnischen Orden erhielt, zitierte ich den französischen General Murat, der auch auf Leipzigs Feldern focht: „Ich trage Orden, damit man auf mich schießt!“ Ich wollte für die Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Schriftstellern in die Pflicht genommen werden. Heute zeichnet mich ein würdevoller Verband mit einer Medaille aus, weil mir Bibliotheken am Herzen lagen und liegen. Das muss Folgen haben.

In unserer Stadt wird häufig von Leuchttürmen geredet. Stolz ragt die Porsche-Kathedrale über ehemaligem Militärgefilde. Als propagandistischer Leuchtturm möchte Leipzigs Olympiabewerbung gelten, im Augenblick Deutschland überstrahlend und in der Hoffnung der Betreiber demnächst die ganze Welt. Als ich zuerst vom Vorhaben hörte, Olympia nach Leipzig zu holen, wusste ich nicht: Sollten es Sommerspiele ums Zentralstadion sein oder Winterspiele am Fockeberg? Trotz mancher Skepsis mischte ich mich unter die Lobpreiser, um kein Spiele-Verderber zu sein. Unterdessen halte ich es nicht für entsetzlich, Leipzig verlöre den nationalen Ausscheid. Anderenfalls müssten wir die Werbemaschine auf teuerste Touren drehen. Nun ginge es gegen Weltstädte wie Rom, Paris oder New York, alle sind zehn oder fünfzehn Mal größer und hundert Mal reicher. Inspektoren kämen nach Leipzig, stünden vor dem geschlossenen Gohliser Schlösschen und der halbmaroden Kongresshalle und merkten, wie unsere Kultur auf dem Zahnfleisch geht. Möge dieser Kelch von einem der anderen deutschen Bewerber geleert werden. Leipzig hat sich hübsch aus dem Fenster gelehnt – nun langt’s. Wahrhaftig ein Leuchtturm war einst unsere Universität. Nach dem Zweiten Weltkrieg lehrten hier Professoren wie Gadamer, Frings, Korff, Markow, Werner Kraus, Bloch und Hans Mayer. Ich muss nicht nachlesen, mein Gedächtnis hat es bewahrt, wie im Mai 1955 an Friedrich Schillers hundertfünfzigstem Todestag Prof. Hans Mayer in der überfüllten Kongresshalle ausrief: „Es ist nicht die Frage, wie wir zu Schiller, sondern wie wir vor Schiller stehen.“ Da hatte Deutschland die Welt mit einem Krieg überzogen, der fünfzig Millionen Menschen das Leben kostete, Stadt und Land lagen in Trümmern, der Jude Mayer war wundersamer Weise davongekommen und aus der Emigration heimgekehrt. Scheiterhaufen von Büchern und Menschen hatten gelodert. Goethe? Schiller? Büchner? Wir Jungen lasen Heine und Tucholsky zum ersten Mal. 47 Jahre später: Wie stehen wir denn heute vor Schiller in den Zeiten von City-Tunnel, BMW und Olympia?

Unsere Universität beherbergt derzeit nicht einen einzigen Professor, den man überall in der Stadt kennt oder dessen Ruf etwa über die Grenzen Leipzigs hinausdränge. Es wird eingespart und eingespart, Stellen entfallen. Das Hickhack um den Neubau am Platz mit den Milchtöpfen tut ein übriges. Wiederaufbau der Paulinerkirche oder architektonisches Zitat oder was? Unklarheiten quälen, Lösung ist nicht in Sicht. Allmählich geht die PDS unter, der bronzene Marx und die Seinen aber beharren an schmutziger Fassade. Das Schicksal unserer Universität ist baulich, personell und finanziell ein dunkles Kapitel. Da leuchtet nichts.

Nun weiß ich wohl: Geld ist nicht gleich Geld, manches fließt aus Berlin, manches aus Brüssel oder Dresden, anderes sollte den Stadtsäckel prall halten, tut es aber nicht. Es kann nicht meine Aufgabe sein, Geld aus einer Hand gedanklich in die andere zu schichten. Dafür wähle ich Politiker auf all diesen Ebenen bei verschiedenen Urnengängen. Die Politiker haben zu entscheiden, was mit den Steuergroschen und -milliarden geschieht. Das Ergebnis zählt.

Wir stehen heute vor Schiller so: Im Rathaus wird nachgedacht, schrittweise über wenige Jahre hinweg zwei Drittel aller öffentlichen Bibliotheken zu vernichten, alle in den Vororten und den vor kurzem noch selbständigen Gemeinden. Dort ist eh schon gekürzt und gestrafft worden, dass Gott erbarm, nun soll der Rotstift ganze Arbeit leisten. Die Strategen dieser Studie haben ermittelt, dabei entstünden für Bibliotheksbenutzer Fahrzeiten mit Bahn und Bus bis zu 25 Minuten in jeder Richtung. Fahrten kosten Geld, natürlich. Jetzt schon sinken die Zahlen an Lesern und Ausleihen jährlich im Umfang von etwa fünf Prozent. Die Folgen dieses massiven Angriffs auf unsere Kultur wären verheerend. Für Kinder, Rentner und Kranke, auch für viele, die beruflich arg beansprucht sind, bedeutete der geplante Rückzug der Bibliotheken aus der Fläche das Ende aller Möglichkeiten, von ihren Schätzen zu profitieren. Auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger wären übel behindert. Wer derlei plant, schätzt unser Kulturerbe nicht, steht also miserabel vor Schiller, der in unserer Stadt ein Lied schrieb, das die Freude als schönen Götterfunken preist. Eine frühe Fassung rühmt anstelle der Freude die Freiheit. Gedankenfreiheit und Bildungsfreiheit sind das erklärte Ziel aller Aufklärer.

Noch schlechter als die öffentlichen Bibliotheken werden die Schulbibliotheken ihren Aufgaben gerecht. Ihr Bestand stammt bis zu neunzig Prozent aus DDR-Zeiten. Selten helfen ABM-Kräfte aus, gegenwärtig ist, dies nur ein Beispiel, die Bibliothek des Reclam-Gymnasiums, einer Vorzeigeschule, geschlossen. Wenn die Stadt die kleineren öffentlichen Bibliotheken abwickelt, entfallen auch bisher gepriesene Versuche, mit Schulbibliotheken zu kooperieren.

Wo Leuchttürme strahlen, fallen Schatten umso dunkler. Wer die Schließung von vielen kleinen Kulturzentren in den Stadtvierteln, den einzigen dort, ernsthaft für möglich hält, hat unsere zwanzig Prozent Arbeitslosen nicht mitbedacht.

In den Wahlkämpfen neulich war von einer Arbeitslosigkeit zwischen dreieinhalb und vier Millionen Menschen in Deutschland der streitende Disput. Jeder achte von ihnen sollte beschäftigt werden, was nicht gelang. Von den übrigen sieben war bei keiner Partei die Rede. Diese sieben Zwerge bleiben ihrem Schicksal überlassen. Wer von ihnen ist schon in der Lage, Bücher für sich und seine Kinder zu kaufen. Durch gestärkte Bibliotheken, etwas anderes kann für einen Humanisten gar nicht infrage kommen, könnten wir ihnen den Zugang zu den Werten des Lebens und einen Teil menschlicher Würde erhalten.

Dreieinhalb Millionen Arbeitslose bedeuten einen von der Politik hingenommenen Grundstock, denn unsere Maschinen sind so vortrefflich, dass sie deren Arbeit nebenher mit erledigen. Arbeitslose im Osten reagieren anders als im Westen. Es ist den Leipziger Bibliotheken kaum gelungen, ehrenamtliche Helfer zu gewinnen. Ein Ostler, der seine Arbeit verliert, reagiert beleidigt: Mich will keiner, ich gehöre zum alten Eisen. Da senken sich Mundwinkel, Mienen werden starr. Ehrenamtlich – nee! Sogar gelernte Bibliothekarinnen, die „freigesetzt“ wurden, wie es harmlos klingend heißt, weigern sich, stundenweise an alter Stätte auszuhelfen. Ihr wollt mich nicht mehr? Aber dann konsequent! ABM-Kräfte wurden mühsam angelernt. Sie reagierten auf die Bitte, nach dem Ablauf ihrer Phase ein wenig zur Verfügung zu stehen, abschlägig. Wenn ich schon arbeitslos bin, so die Reaktion, dann total!

Im Osten sind viele Frauen arbeitslos, im Westen arbeiten viele Frauen nicht. Das ist ein Unterschied. Im Osten gilt Nichtarbeit als unverschuldeter Schicksalsschlag, im Westen als freie Entscheidung zwischen Beruf und Familie. In manchen neu entstandenen Siedlungen unserer Region wohnen aus Westdeutschland zugereiste Familien. Dort passiert es eher als in traditionellen Altgebieten, dass Frauen Fördervereine für die Schulen bilden, die von ihren Kindern besucht werden. Auch Sportvereinen und Bibliotheken wird auf diese Weise geholfen. Unterschiede also immer noch zwischen Ost und West nach zwölf gemeinsamen Jahren. Dies aber auch: Bei uns, in Holland, Frankreich und den USA gilt gleichermaßen: Wohlstand fördert die Neigung zu gemeinnütziger Betätigung. Die Frau eines Arztes oder besseren Angestellten ist dazu eher geneigt als die Empfängerin von Sozialhilfe, deren Mann unter Depression leidet. Und ihr Kühlschrank ist gerade kaputt gegangen.

Die PISA-Studie hat uns nicht aufgeschreckt, Handwerksmeister klagen umsonst, dass die Lese- und Rechenfähigkeit ihrer Lehrlinge immer mehr abnimmt. Lesefreude, Literatur- und Kunstliebe als humanistischer Wert, Achtung vor den kulturellen Leistungen der Vorfahren, ein Damm gegen die Verflachung durch Mörderfilme der Privatsender und der öffentlich rechtlichen dazu mit Pilcherei und Banalmusik, zu der Säle voller Deppen und Deppinnen stupid patschpatsch machen – wie stehen wir da vor Friedrich Schiller? Was den Kindern nicht durch Schule und Zugang zur Bibliothek frühzeitig in ihre Gedanken und Gefühle gelegt worden ist, findet später in aller Regel nicht hinein. Es nutzt gar nichts, wenn Parteienobere erklären, es müsse mehr für die Bildung getan werden. In unseren Stadtvierteln, in Connewitz und Engelsdorf, in Paunsdorf und Grünau muss es beginnen.

Vielleicht liegt strukturell etwas im Argen. Es wäre besser, die öffentlichen Bibliotheken gehörten nicht zum Kultur-, sondern zum Bildungsbereich. Dann wäre es leichter, Schul- und öffentliche Bibliotheken zu verzahnen. Abgesehen davon: Jetzt heißt es durchhalten. Die Schließung einer Bibliothek erscheint manchem denkbar. Es kommen auch einmal bessere Zeiten – selbst dann wird es schwer fallen, eine Bibliothek wieder zu eröffnen.

Wer hält die Festrede in drei Jahren zum zweihundertsten Todestag von Friedrich Schiller, anknüpfend an das, wozu uns Hans Mayer 1955 wortstark mahn-te? Ich stelle mir vor, eine freundliche Assistentin der Universität, von Abwicklung noch verschont, hält ein Seminar über das, was von ihrem Haus geblieben, sie nennt Zahlen über den Leistungsrückgang der Bibliotheken, sie berichtet über die Folgen von dem, was jetzt geplant wird. Durch Zufall erfahre ich davon und gehe hin. Ein Dutzend Studenten wartet auf dem Korridor. Durch die Mauern dringt der Lärm von Presslufthämmern. Die Assistentin eilt roten Kopfes herbei, der Schlüssel fürs Seminarzimmer ist nicht aufzutreiben oder die Toilette darüber undicht – wenn der Wurm drin ist, kommen alle Übel zusammen.

Dann gehe ich still hinaus in die Maiensonne und denke an Hans Mayer und seinen Freund Georg Maurer, nach dem einst dahier eine Bibliothek benannt wurde und der Leipzig eine den Musen bittere Stadt nannte. Ich stelle mir vor, wie ich die beiden alten Gefährten im Rosental treffe. Zu dritt sitzen wir auf einer Bank, und sie fragen mich: Sag mal, Erich, wie fühlst du dich als Ehrenbürger unserer Stadt und Träger der Preusker-Medaille obendrein?

Davon bin ich überzeugt: Christlich, Herr Kaminski, ist das, was gegenwärtig um unsere öffentlichen Bibliotheken geplant wird, nicht. Es ist, Herr Doktor Girardet, in keiner Weise liberal, und, Herr Tiefensee, sozialdemokratisch schon gar nicht.

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