Birgit Dankert

Preisträger 2004 der Karl-Preusker-Medaille

Preisträgerin der diesjährigen Karl-Preusker-Medaille ist Birgit Dankert, Professorin für Bibliothekswissenschaft am Fachbereich Bibliothek und Information der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.

Sie erhält die Medaille in Würdigung ihres Lebenswerkes, ihres seit mehr als 30 Jahren unermüdlichen beruflichen und ehrenamtlichen Engagements für das öffentliche Bibliothekswesen.

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Urkunde

Birgit Dankert hat sich in ganz außergewöhnlicher Weise um das Öffentliche Bibliothekswesen in Deutschland verdient gemacht. Seit 36 Jahren ist sie beruflich wie nebenberuflich in der Bibliotheksarbeit engagiert. Nach einer zehnjährigen Tätigkeit als Lektorin und Projektbetreuerin an zentralen bibliothekarischen Einrichtungen in Schleswig-Holstein hat sie seit 1981 an der Fachhochschule Hamburg (später Hochschule für Angewandte Wissenschaften) Generationen angehender Bibliothekarinnen und Bibliothekare bis zu diesem Jahr unterrichtet.
Ihr ehrenamtliches Engagement war außerordentlich vielfältig. Sie hat viele Jahre die Geschicke des Vereins der Bibliothekare an Öffentlichen Bibliotheken (VBB) als Vorstandsmitglied und schließlich als Vorsitzende mitbestimmt. Sechs Jahre stand sie als Sprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheken (BDB) vor. In dieser Zeit erreichte sie es, dass die BDB in die Deutsche Literaturkonferenz und diese in den Deutschen Kulturrat integriert werden konnten. Ihr Einsatz trug dazu bei, dass der Weltkongress der Bibliothekare 2003 in Berlin stattfand (IFLA 2003).
Wesentlichen Anteil hatte Birgit Dankert auch an dem schnellen und geräuschlosen Zusammenwachsen des deutschen Bibliothekswesens nach der Wiedervereinigung. Erwähnt sollte auch werden, dass die Idee der Karl-Preusker-Medaille auf sie zurückzuführen ist.
Als eine der besten Kennerinnen der deutschen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 hat sie sich in besonderer Weise als Wissenschaftlerin wie als engagierte Bibliothekarin und Verbandsaktivistin für gute Kinder- und Jugendbibliotheken eingesetzt. Ihre eigene Sammlung von rund 5000 Bänden Sekundär- und Primärliteratur zum Kinder- und Jugendbuch stiftete sie im Jahr 2004 der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek in Hannover. Das Lebenswerk Birgit Dankerts erfüllt in geradezu idealer Weise die Kriterien der Vergabe der Preusker-Medaille.

Die Deutsche Literaturkonferenz,welche im Gedenken an Karl Benjamin Preusker,
den Pionier der Volksbüchereibewegung,
Gründer der ersten deutschen Bürgerbibliothek 1828
im sächsischen Großenhain, die

Karl-Preusker-Medaille

gestiftet hat, verleiht diese Auszeichnung

Frau Prof. Birgit Dankert

in Würdigung ihres lebenslangen Engagements für
das Öffentliche Bibliothekswesen,
um das sie sich in ganz außerordentlicher Weise
hauptberuflich wie ehrenamtlich
verdient gemacht hat.

Berlin, den 24. Oktober 2005

Für die Deutsche Literaturkonferenz

Burkhart Kroeber

Dr. Georg Ruppelt

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Laudatio für Prof. Birgit Dankert
zur Verleihung der Karl-Preusker-Medaille

bild4Jochen Missfeldt

Laudatio für Prof. Birgit Dankert zur Verleihung der Karl-Preusker-Medaille am 24. Oktober 2005 im Literaturhaus Hamburg.

Unsere Birgit liest noch beim Lesen.

Liebe Birgit Dankert, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Als Birgit Dankert im Jahre 1971 mit ihrem Mann nach Flensburg zog, um als Lektorin im Zentrallektorat der Büchereizentrale in Flensburg zu arbeiten, hatte sie ihre Ausbildung gerade beendet. Als Siebenundzwanzigjährige blickte sie zurück auf das Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Münster und Tübingen. Die Ausbildung zur Diplombibliothekarin hatte sie an der gerade installierten Fachhochschule in Hamburg abgeschlossen, übrigens zusammen mit ihrem Mann, den sie schon seit Schulzeiten kannte, mit dem sie auch das Studium zusammen absolvierte, und der stets eine Klasse höher oder ein Semester weiter war. Damit, so Birgit Dankert wörtlich und mit dem ihr eigenen, fröhlichen Lachen, sei „die Emanzipationsfrage ein für allemal gelöst gewesen“.

Birgit Dankert betreute als Lektorin beim damaligen Deutschen Grenzverein das ländliche Büchereiwesen in einer Region, in der auch meine Romane und viele meiner Geschichten beheimatet sind. Ein schöner, zufälliger Zusammenhang. Damals haben wir uns noch nicht gekannt. Damals hatte ich noch keine Geschichten und Romane geschrieben, nur ein paar Gedichte. Damals erzählte man sich eine Geschichte vom Landrat, der irgendwo zwischen Flensburg und Schleswig eine öffentliche Bücherei im neu erbauten Rathaus einweihen sollte. Angekommen in der kleinen Stadt, nennen wir sie Solsbüll, ließ er seinen Fahrer halten, um den ersten besten Solsbüller nach dem Weg zu fragen. Er kurbelte die Scheibe der Beifahrertür herunter und fragte: „Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie ich zum Rathaus komme? Ich werde heute die neue Bücherei einweihen.“ Der gute Mann antwortete auf Plattdeutsch: „Du musst erstmal fiefhundert Meter geradeut; denn musst du links, denn wedder rechts, und denn bist du dor.“ Der Landrat verstand und sagte: „Ja kennen Sie mich denn gar nicht, ich bin doch der Landrat.“ Der gute Mann antwortete: „Uk wenn du de Landrat bist, du musst erstmol fiefhundert Meter geradeut, denn musst du links, denn wedder rechts, und denn bist du dor.“

Sei es für den von Amts wegen Autorisierten, sei es für den selbsternannten Privilegierten, sei es für Otto Normalverbraucher, der Weg in die öffentliche Bücherei ist für jeden derselbe. In der Bücherei ist jeder vor den Büchern gleich. Bibliotheken für alle. Das war nicht immer so.

Wenn Birgit Dankert heute mit der Karl-Preusker-Medaille geehrt wird, dann gedenken wir selbstverständlich auch des Mannes Karl-Benjamin Preusker, des Pioniers der Volksbüchereibewegung, des Gründers der ersten deutschen Bürgerbibliothek am 24. Oktober 1828 im sächsischen Großenhain, das damals noch Hain hieß. Das war auf den Tag genau vor 177 Jahren, Goethe lebte übrigens einhundertsechzig Kilometer Luftlinie westlich von Großenhain in Weimar, und Deutschland hinkte im internationalen Vergleich hinterher. In Frankreich war die erste öffentliche Bibliothek 1645, in England schon 1602 gegründet worden. Und, man höre und staune: Im Jahre 1004 gründete Kalif Hakim von Kairo das „Haus der Wissenschaft“ und überließ seinem Volk eine bedeutende Sammlung von Manuskripten mit folgender Aufforderung: „Jedermann soll kommen, um zu lesen, abzuschreiben und sich zu bilden.“

Der Mann gefällt mir. Und Preusker gefällt mir auch. Zugeben muss ich jedoch, dass ich ihn erst kennen lernen konnte, nachdem Iris Mai von der Deutschen Literaturkonferenz mich bat, heute Abend, anlässlich der Feier für Birgit Dankert, ein paar Worte zu sprechen. Ich tue das sehr gern und möchte der Deutschen Literaturkonferenz, dem guten und inspirierenden Geist, herzlich für diese ehrenvolle Aufgabe danken.

Wer war Karl-Benjamin Preusker?

In meinem neu beschafften Zeit-Lexikon fand ich ihn nicht. Auch der Brockhaus meldete Fehlanzeige. Im Internet aber gab die Firma Google über ihn Auskunft. Auch über Großenhain, und Großenhain sagte mir etwas. Diese kleine Stadt war mir ein Begriff aus den friedlichen Zeiten des kalten Krieges. Als Flieger bei der Luftwaffe wusste ich, dass in Großenhain ein sowjetisches Jagdbomberregiment stationiert war. Ich wusste über den Flugplatz Bescheid, wie lang und breit die Startbahn war und in welcher Richtung sie verlief, ich wusste, wie viele Flugzeuge zum Regiment gehörten und welche Typen das waren. Von Karl-Benjamin Preusker und seiner Bücherei hatte ich absolut keine Ahnung. Birgit Dankert aber, damals beschäftigt mit ihrer Lektorinnen-Arbeit eine halbe Autostunde entfernt von meinem Einsatzflughafen, wird Preusker gekannt haben. Sie war ja vom Fach. Ob sie aber auch das wusste, was ich damals wusste, das weiß ich nicht.

Und nun kenne ich Preusker auch. Als besonders interessant, irgendwie auch beruhigend für mich, empfinde ich, dass er elf Jahre lang, von 1813 bis 1824, Soldat war und während seiner Militärzeit auch noch Zeit fand, sich umfassend und intensiv zu bilden.

Das soll ihm einer mal nachmachen! Elf Jahre beim Militär, und dann noch etwas Anständiges gelernt haben.

Er hörte Vorlesungen an der Leipziger Universität. Sein Interesse galt den Büchern und dem Lesen. Er schrieb Artikel für den Brockhaus. Der Mann war zielstrebig und zäh und wusste, was er wollte. Er hatte Leidenschaft und Begeisterung. Im Jahre 1824, nach seiner ehrenvollen Entlassung aus dem Militärdienst, wurde er Rentamtmann in Großenhain und war in der Stadtverwaltung zuständig für Kassenführung, Zinsberechnung und für die Überwachung des Straßenbaus. Preusker muss also auch ein Mann der Disziplin und Dauer, der Sorgfalt und Solidität gewesen sein.

Den Bogen von Karl Preusker zu Birgit Dankert kann ich schnell und problemlos schlagen. Wer wissen will, wer Karl Preusker war, muss nur wissen, wer Birgit Dankert ist. Auch ihre Leidenschaft gehört den Büchern und dem Lesen. Diese Leidenschaft konnte sie zu ihrem Beruf machen. Und aus dieser Leidenschaft stammt die Begeisterung für den Beruf.

Die ausschließlich wissenschaftlich-politische Beschäftigung mit Literatur und Kunst im Umfeld der 68-Bewegung – Birgit Dankert ist ja auch eine (in Anführungsstrichen) „Achtundsechzigerin“ -, das hielt sie nicht für eine lohnende Aufgabe. Diesen Standpunkt vertritt sie auch heute noch. Wie kann man Literatur und Kunst verbinden mit gesellschaftlicher Wirkung? Auf diese Frage wollte sie die eigene Antwort. Und auf diese Frage hat auch Preusker die ihm eigene Antwort gefunden. „Lehrer wollten wir nicht werden“, das sagte Birgit Dankert mir im Gespräch, und mit „wir“ hat sie sich selber und ihren Mann gemeint. So führte ihr Lebens- und Berufsweg in den Bibliotheksdienst, und sie wurde, was sie schon als kleines Mädchen war und bis jetzt geblieben ist: ein Büchermensch.

Auch sie zeichnet aus, was Preusker auszeichnete: Das Zielstrebige, Gründliche, Solide, und die Zähigkeit, all das zu pflegen, zu bewahren und als Werkzeug zu gebrauchen. Sie selber hält sich für „manchmal unbequem“. Ich sehe das anders: Ihre Geradheit und Offenheit, ihr Wesen, den Kopf oben zu halten und das Rückgrat nicht zu verbiegen, das könnte irritieren und als „manchmal unbequem“ gelten. Bei Birgit Dankert kommt noch etwas hinzu: Das Lachen und die Fröhlichkeit. Ob Karl Preusker ein fröhlicher Mensch war, der auch gern lachte, das weiß ich nicht. Lachen hätte ihm aber gut zu Gesicht gestanden. Auf dem Faltblatt mit Preuskers biographischer Agenda sieht man ein Gesicht mit sehr großen Augen und mit einem lächelnden Mund.

Ich kann und will auf Birgit Dankerts Verdienste um das Öffentliche Bibliothekswesen in Deutschland nicht näher eingehen. Das ist ja auch nicht meine eigentliche Aufgabe. Darüber wissen Vorgesetzte, Kollegen, Wegbegleiter mehr als ich. Die Verleihungsurkunde und die Medaille sind sichtbarer Ausdruck ihrer Leistung und berichten, schwarz auf weiß und auf den zwei Seiten der Medaille. Die Urkunde beschreibt Birgit Dankerts Flensburger Zeit, die Zeit danach als Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften und gibt weiter Auskunft über das, was nebenher und ehrenamtlich lief. Beispielsweise die Mitarbeit in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Bibliothekswesen“ zur Integration des deutsch-deutschen Bibliothekswesens. Eine Milliarde DM habe dieser Integrationsprozess gekostet, schätzt Birgit Dankert.

Nicht mehr?

Das habe ich mich gefragt, weil ich an andere Summen denken musste, die im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung genannt worden sind.

Die Mitarbeit in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Zeit von 1990-1992, ist ein bewegender, spannender und auch von menschlichen Enttäuschungen begleiteter Abschnitt ihres Berufslebens gewesen. In diese Zeit und in die Zeit vor 1990 blickt sie heute selbstkritisch und nicht ohne Vorwürfe an die eigene Adresse zurück: Auch sie habe in ihrem ureigenen Fach nicht immer gesehen und erkannt, wie es wirklich gewesen sei.

Dass Birgit Dankert ein sechsunddreißig jähriges Berufsleben ohne das wohl bekannte „Karriere-Denken“ gelebt hat und nun, fast am Ende, auf eine eindrucksvolle Lebensleistung zurückblicken kann, hat sie nur sich selbst zu verdanken.

Ist das wirklich so?

Wer Beruf, Ehrenamt und privates Mäzenatentum so bündeln und in sein Leben rücken kann, der muss ein starkes Empfinden für eigenes Denken und Handeln, Tun und Lassen haben, und für kritische Selbstbeobachtung.

Nehmen wir zum Beispiel die „Sammlung Birgit Dankert“, eine der vollständigsten Privatsammlungen zum Thema Deutsche Kinder- und Jugendliteratur von 1945 bis heute. Sie umfasst etwa 2000 Bände Fachliteratur und zusätzlich die einzige außerhalb des Verlages existierende vollständige Taschenbuchreihe dtv-junior mit 2100 Bänden. Diese Sammlung hat Birgit Dankert vor knapp einem Jahr der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover übergeben, in der Waterloo-Straße – Wahrlich ein unpassender Straßenname zu so einem Akt der Großzügigkeit!

Was steckt dahinter? Was steckt hinter Birgit Dankerts Lebensleistung? Gibt es ein Geheimnis, einen Grund?

Als ich sie vor ein paar Wochen besuchte und wir über Gott und die Welt sprachen, sprachen wir auch über ihre Kindheit. Über dieser Kindheit, so glaube ich, steht ein bedeutender Satz, ein Satz aus dem Munde ihrer Mutter, der zum geflügelten Wort der Familie wurde: „Unsere Birgit liest noch beim Lesen.“ Ein wunderbarer Satz. Der gehört in die Bücher und in die Bibliotheken. Ich habe ihn deswegen auch meinem Redetext als Überschrift voran gestellt: Unsere Birgit liest noch beim Lesen.

Wie bringt man Kinder zum Lesen? Diese Frage, die mit dem Stichwort „Pisa“ so aktuell geworden ist, war keine Frage für Birgit Dankerts Mutter. Auch nicht für den Vater. Es gab Bücher im Haus. Die geliebten Eltern lasen selber und lasen Tochter und Sohn vor. Die Mutter sei mehr für Roman, Kinderbuch und Unterhaltung, der Vater mehr für Sachbuch und Weiterbildung zuständig gewesen. Das Vorbild „Lesen“ kam also von beiden Elternseiten und von oben herab aus den Bücherregalen. Lesen – das war kein Thema, das theoretisch diskutiert und befragt werden musste. Man nahm schlicht und einfach ein Buch in die Hand und las, getreu dem Wort, das der heilige Augustinus überliefert hat: „Nimm und lies.“ Das Lesen gehörte zum Familienleben wie die Mahlzeiten zum Alltag. Auf Kinderfragen antworteten nicht nur die Eltern, sondern auch die Bücher. Und die Menschen und Tiere in den Büchern, Stadt, Land, Fluss, waren immer gegenwärtig, lebten in der Familie mit, in Haus und Garten und wo sonst noch überall.

Kinder lesen zuerst laut, nachdem sie jahrelang zugehört haben. Schon im Bauch der Mutter hört das Kind mit. Es hört heraus, ob Frust oder Lust oder dicke Luft in der Familienstimmung liegen. Erst wenn das Kind mit der Sprache Kontakt gehabt hat, kann es selber sprechen lernen. Dann lesen lernen. Zuerst laut. Nicht nur, weil Eltern und Lehrer dann zuhören und verbessern können, sondern vor allem deswegen, weil das Kind das Vorlesen nachahmt und sich selber sprechen hören will. Je früher die Geschichten erhört werden, desto wirkungsvoller formt sich eine Perspektive für das Leben. Die Geschichten geben der Zukunft eine Form. Ohne Form keine Zukunft.

Als unsere Vor-Vorfahren im Orient die Schrift erfanden – Orient ist die etymologische Wurzel für „Orientierung“ -, da haben sie nicht still, sondern laut gelesen. Stilles Lesen kam viel später. Der schon erwähnte Augustinus berichtet von einer Begegnung mit dem heiligen Ambrosius, der als außergewöhnlicher Leser galt. Augustinus schreibt in seinen „Bekenntnissen“ über ihn: „Wenn er las, überspannten seine Augen die Seiten, und mit dem Herzen nahm er die Bedeutung auf. Seine Stimme schwieg, und seine Zunge blieb unbewegt. Jeder konnte sich ihm frei nähern, und da die Gäste meist nicht angekündigt wurden, geschah es oft, wenn wir ihn besuchten, dass wir ihn still lesend vorfanden, denn er las niemals laut.“ Die Feststellung, dass Ambrosius „niemals“ laut las, soll die erste gesicherte Information sein über stilles Lesen in der westlichen Literatur. Das stille Lesen brachte die Stille in die Bibliotheken. In den mittelalterlichen Klosterbibliotheken war es mucksmäuschenstill, die Mönche haben sich mit Handzeichen verständigt. Aber das laute Lesen ist nicht ausgestorben. Wir erleben es mit unseren Kindern, auch mit uns selbst, wenn wir im Gottesdienst das aufgeschlagene Gesangbuch in der Hand halten, den Text eines Chorals lesen, brav den Noten folgen und leise oder laut singen. Die Musik macht’s möglich, die Musik macht uns Erwachsene auf raffinierte Weise wieder zu Kindern.

Eltern, Bücher, Lesen – das ist für Birgit Dankert die nachdrückliche, dreifach prägende Erfahrung in der Kindheit und Jugendzeit gewesen. Prägend auch das Erzähltalent der Mutter, die über ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis verfügte. So besuchte Tochter Birgit gleich nach der Wende mit den Erzählungen der Mutter im Kopf ihren Geburtsort Mühltroff bei Plauen im Vogtland. Mit den Erzählungen ihrer Mutter konnte sie sich orientieren, es war wie ein Wiedersehen mit einem Ort, an den sie selber keine Kindheitserinnerung hat, der sich allerdings auch 45 Jahre lang kaum verändert hatte, nur 45 Jahre älter geworden war.

Eines Tages sagte die Mutter zur fünfjährigen Tochter Birgit, „Es gibt ein Buch, dieses Buch ist so traurig, dass ich es dir nicht vorlesen kann.“ Das Buch hieß „Onkel Toms Hütte“, und die Mutter musste Onkel Toms Hütte nach dieser Buchvorstellung nun erst Recht vorlesen. Das Vorlesen hatte Folgen: Zwei Jahre später, während der Sommerferien in Oberammergau, beobachtete Tochter Birgit, wie ein schwarzer Junge in Begleitung weißer Erwachsener – offensichtlich Amerikaner – ein Hotel betrat. Da schrie Birgit: „Das ist ein Sklave! Der darf da doch nicht rein.“ Birgit Dankert erzählte mir diese Geschichte als ein Beispiel für die Wirkung von Literatur. Die Wirkung geht noch weiter; denn sie erreichte ja auch die Mutter, die sich über den Vorfall amüsierte, und den sechs Jahre älteren Bruder, dem das peinlich war, und sie erreichte auch die Amerikaner, die nur Bahnhof verstanden.

Heute blickt Birgit Dankert auf eine schöne, reiche, behütete Kindheit zurück. So hat sie mir erzählt. Liegt da das Geheimnis? Sie sieht in ihren Eltern die Anstifter zum Lesen. Sie haben noch zum Lesen angestiftet, als ihre Tochter in Münster und Tübingen studierte; denn vor den Semesterferien mahnten sie: „Geh nicht arbeiten, sondern steck deine Nase lieber in ein Buch.“

Nun befindet sich in ihrem Kopf eine Bibliothek mit Büchern und Lieblingsbüchern. Goethes frühe Gedichte sind dabei und Fontanes „Effi Briest“. Auch „Der Schwierige“ von Hugo von Hofmannsthal hockt da oben.

Der Kopf als Bibliothek. Ort des Wissens und der Orientierung, Ort der Vernetzung und Verknüpfung, Ort der Stille und Zeit. Selbstverständlich auch ein Ort der Empfindungen und Gefühle. Wie sieht diese Bibliothek im Kopf aus? Ist sie das vertikale Labyrinth, das Jorge Luis Borges beschreibt in der Erzählung „Die Bibliothek von Babel“? Da klettert der Büchermensch die Regale hoch, himmelwärts, immer auf der Suche nach dem einen Buch. Hätte er es gefunden und gelesen, er bräuchte nie mehr ein Buch lesen. Will aber der Büchermensch so ein Buch?

Ich bin für das horizontale Labyrinth. Das vertikale lebt von der dritten Dimension, und die will ich meiden. Immer schön am Boden bleiben, frei von den Zwängen der bibliothekarischen Administration, immer wieder – der Weg ist das Ziel – in die Regale greifen und dann und wann ein Buch entdecken, es in die Hand nehmen und wissen was es ist: Geniestreich der Einfachheit, Geniestreich der Wirkung. Ein Buch, von dem Franz Kafka sagte: es „muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Ich bin fast am Ende. Schließen möchte ich mit einem frühen Goethe-Gedicht, weil die frühen Goethe-Gedichte zur Lieblingslektüre unserer Preisträgerin zählen. Ich habe eines ausgesucht, das auch zu meinen Lieblingsgedichten gehört. Goethe schrieb es, als er achtundzwanzig Jahre alt war:

Beherzigung

Ach, was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser ruhig bleiben?
Klammernd fest sich anzuhangen?
Ist es besser, sich zu treiben?

Soll er sich ein Häuschen bauen?
Soll er unter Zelten leben?
Soll er auf die Felsen trauen?
Selbst die festen Felsen beben.

Eines schickt sich nicht für alle
Sehe jeder wie ers treibe,
Sehe jeder wo er bleibe,
Und wer steht, dass er nicht falle.

***

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Grußwort von Klaus-Peter Böttger

Stadtbücherei Mülheim an der Ruhr

Liebe Frau Professor Dankert, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

an dieser, meiner Stelle war ursprünglich der wohl geschätzte Kollege Gerald Leitner aus Österreich vorgesehen, der leider durch einen familiären Trauerfall verhindert ist – aufrichtige Grüße nach Wien.
Er hätte aus dem Ausland, von außen, den internationalen Aspekt der Würdigung der diesjährigen Preisträgerin der Karl-Preusker-Medaille eindrucksvoller, authentischer wiedergeben können als ich dies vermag. Ich möchte mich in diesen Grußworten, und damit nicht dem Laudator unabgesprochen vorweggreifen, beschränken auf das, wie ich Frau Prof. Dankert verbandspolitisch auf der internationalen Bühne des Bibliothekswesens wahrgenommen habe bzw. immer noch spüre, da sie deutliche Spuren und Zeichen hinterlassen hat.

Drei Ansätze kamen mir hierzu in den Sinn:

1. Aus meiner, im Vergleich zu dem Wirken von Frau Dankert bescheidenen internationalen Arbeit zähle ich jetzt einfach auf, in welchen europäischen Gremien, internationalen Organisationen, auf ausländischen Tagungen mir Folgendes geschah: „Sie sind aus Deutschland? Dann grüßen Sie Frau Dankert!“. Es gibt wohl kaum jemanden aus dem deutschen Bibliothekswesen, der auf der internationalen Szene derartig nachhaltige positive Eindrücke für Deutschland hinterlassen hat, ein persönliches internationales Netzwerk, das gleichzeitig Anerkennung der Person und Persönlichkeit war wie auch hohe fachliche Wertschätzung der Professorin, der Vertreterin des deutschen Bibliothekswesens. Diesen Ansatz habe ich verworfen, da mir bei der umfangreichen Liste möglicherweise ein Fehler der Unvollständigkeit unterlaufen wäre.

2. Es könnte dies öffentliche Gelegenheit für mich sein, persönlich meinem Vorbild in verbandspolitischer Hinsicht Dank zu zollen, Dank für Impulse, die Frau Dankert Jahre vorher gesät hatte, von denen ich bei mancher Gelegenheit, neu auf diesem Terrain, dann profitieren durfte. Unmerklich waren Böden und Äcker, mit westfälischem Hintergrund und schleswig-holsteinischer Bodenständigkeit, gründlich bereitet worden. Diesen Ansatz habe ich verworfen, weil dies würde ich lieber ohne die jetzige öffentliche Zuhörerschaft mal wieder bei privater Gelegenheit mit Blick auf die dänische Küste tun.

3. Ich versuche es mit Attributen, die ich mit Ihrer internationalen Verbandsarbeit verbinde, und die Sie, meine sehr geehrten Damen und Herrn, aus Ihrer Erfahrung sicherlich teilen werden.

  • Uneigennützig, nur an das Gesamte denkend
    Auf meiner ersten IFLA-Konferenz 1997 in Kopenhagen kann ich mich gut an den Moment auf der Abschlussveranstaltung erinnern, als Deutschland für die Ausrichtung der Weltbibliothekskonferenz 2003 Berlin den Zuschlag erhielt und Frau Dankert, als Sprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände, diese Einladung an die bibliothekarische Welt aussprechen durfte. Sie hatte es nach langer Vorarbeit geschafft, dieses Ereignis nach Deutschland zu holen. Uneigennützig, weil dann Andere 6 Jahre später im Vordergrund stehen durften.
  • Den richtigen Moment erkennend
    Vor 13 Jahren ist in Den Haag ein Büro gegründet worden, das europäische Büro der Verbände des Bibliotheks-, Informations- und Dokumentationswesens, ein Büro, das seitdem trotz schmaler personeller Besetzung unter immensem Einsatz und höchst effizient sich um die Belange von Bibliotheken im Rahmen der Europäischen Union kümmert. Zu denen, die die Idee dazu hatten und es mitgegründet haben, zählt Frau Prof. Dankert. Ihr war klar, dass mit der Vergrößerung der EU – Sie erinnern sich an die 1992 erfolgte größere Erweiterung – es unabdingbar war, eine europäische Organisation, EBLIDA, zu gründen, die als Lobbyeinrichtung die Frage von Bibliotheken sowohl in juristischer Hinsicht, in Förderprogrammen, in Projekten nicht nur berücksichtigen, sondern aktiv in den Vordergrund stellen sollte. Und wir wissen heute, wie wichtig und unabdingbar dieses Büro geworden ist, sei es aufgrund von Durchsetzungsvermögen bei Fragen des Urheberrechts, sei es durch europäisch koordinierte Stellungnahmen zu Bibliotheksfragen, Konfrontationen wie bei der umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie oder durch Projekte wie ECUP, PULMAN oder CALIMERA.
    Ein weiteres Beispiel für Frau Dankerts Umsichtigkeit: Als zu Anfang der 90er Jahre die Fragestellung von Bibliotheken und geistiger Freiheit, Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit thematisiert wurde, war sie maßgeblich daran beteiligt, dass in der Weltorganisation IFLA ein Ausschuss eingesetzt und in der Folge ein Büro für FAIFE (Freedom of access to information and freedom of expression) eingerichtet wurde.
  • Kämpferisch
    Frau Dankert war fast 20 Jahre Mitglied des Beirats „Bibliotheken, Mediotheken“ beim Goethe-Institut. Und es gab eine Zeit, da stand es um die Zukunft der Goethe-Institute und derer Bibliotheken perspektivisch nicht zum Besten. Da hieß, es strategischen Einsatz und Kämpferwillen zu zeigen; ebenso wie beim Deutschen Bibliotheks-Institut – dieser Kampf fiel in ihre Amtszeit als Sprecherin der BDB – ein Kampf, der bereits auf politischer Ebene entscheiden, vergebens war. Ich habe Sie selten so unnachgiebig erlebt wie in solchen Situationen, wenn etwas aus Ihrer Sicht Ungerechtfertigtes und das Bibliothekswesen Schädliches drohte.
  • Verbindend
    Ihnen, liebe Frau Dankert, ist es aus meiner Wahrnehmung auch immer darum gegangen, Menschen, KollegInnen in Verbindung zueinanderzubringen, scheinbare Hindernisse aufzuheben, die die Zusam,menarbeit zwischen Gremien, Verbänden störte, seien es emotionale oder rationale Störungen und Vorurteile. Dies ist Ihnen beim Goethe-Institut und der DGI hervorragend Schritt für Schritt gelungen.
  • Großzügig
    Ich habe selten jemanden erlebt, der nicht nur großzügig, offen und ehrlich im Teilen mit Erfahrung war, sondern auch, ein Ziel vor Augen, Vieles unterordnete: Geld, Zeit; da wo andere erst einmal die Frage stellten, wer bezahlt dies denn, ergriff sie die Initiative, weil die Sache, der Einsatz, die Lösung eines Problems wichtiger war als eine verwalterische Antwort.

Und ich habe hier nun nicht mehr untergebracht – ungeachtet der nationalen Verbandstätigkeit – die Arbeit in den Ausschüssen der IFLA für Schulbibliotheken und Ausbildungsstätten, die Präsidentschaft der IBBY-Sektion und vieles andere mehr, unter anderem die Frage, wie Sie dies Aölles geschafft haben. Dies ist aller Ehren und Preise wert.
Liebe Frau Professor Dankert, die Verleihung der Karl-Preusker-Medaille bezieht sich vornehmlich auf das deutsche Bibliothekswesen, aber dabei sollte der internationale Aspekt Ihrer Tätigkeit, Ihrer Verdienste nicht unerwähnt bleiben. Auch das internationale Bibliothekswesen mit dem Blick und Bezug auf Deutschland hat Ihnen außerordentlich zu danken. Ich hoffe, das ich Nichts vergessen habe, was Ihnen in der Vielzahl noch der Erwähnung halber wichtig gewesen wäre.

Danke für die Felder und Wege, die Sie uns bereitet haben und wir dankenswerterweise beschreiten dürfen.

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Worte der Preisträgerin

redeVerleihung Karl-Preusker-Medaille 2005-10-22
Worte der Preisträgerin

Lieber Herr Ruppelt,
lieber Herr Böttger,
lieber Herr Missfeldt,
liebe Freunde/Freundinnen und Kollegen/Kolleginnen,
meine Damen und Herren,

eine Auszeichnung, einen Preis zu erhalten, ist etwas ganz anderes als einen Preis ins Leben zu rufen, einen Preis zu vergeben, die Preisverleihung zu organisieren, über die Vergabe zu entscheiden oder eine Laudatio auf die Preisträger zu halten. All‘ das hatte ich in kultur- und bibliothekspolitischen Ämtern 35 Jahre lang durchprobiert und – um mit Tonio Kröger zu sprechen – „bis auf den Grund“ erfahren. Aber nun selber Preisträgerin zu sein, ist etwas ganz Neues, das ich einübe, seit mir die Deutsche Literaturkonferenz die wunderbare Botschaft überbrachte, am 24.10. – dem Tag der Bibliotheken – solle mir die Preusker-Medaille 2005 verliehen werden.

Wohl jeder, der Literatur, andere Medien und Künste liebt, ist fasziniert von dem Perspektivenwechsel, den sie mühelos ermöglichen. Mir bereitet es Mühe, die bibliothekarische Welt, in der ich mich den größten Teil meines Lebens bewegt habe, aus der Sicht einer Preisträgerin, die „den Kulturauftrag des Öffentlichen Bibliothekswesens wirkungsvoll fördert“ (so heißt es in den Ausschreibungsbedingungen), zu betrachten. Der Perspektivenwechsel ändert vor allem und zunächst einmal das Zeitgefühl: von dem eindeutig, immer schon und zu jedem Zeitpunkt auf die Zukunft gerichteten Bewusstsein hin zur Vergangenheit, oder zumindest doch zum Perfekt. Dabei wage ich – vielleicht wirklich zum ersten Mal – mein anscheinend oder scheinbar preiswürdiges Handeln in diesen 35 Jahren so wichtig und als Einheit zu nehmen, dass es der Betrachtung und Beurteilung standhält. Das ist für mich eine schwere Arbeit. Denn den meisten der Projekte und Aktivitäten, von denen hier die Rede war – mögen sie nun zu Erfolgen und Misserfolgen geführt haben – wandte ich mich entweder ganz spontan oder einfach deshalb zu, weil sie mir für die Verwirklichung der seit meiner Kindheit tief in die Seele gedrungenen Idee des freien Zugangs zu Wissen, Kunst und Kultur notwendig erschienen. Ein Lebensplan oder eine auf Jahre hinaus ins Auge gefasste Strategie stand nie dahinter.

„Local access to global information“ ist die „globalisierte“, aktuelle Version dieser Idee, die Preusker als einer der ersten in einer kleinen sächsischen Stadt mit einer Bibliothek umsetzte. Sie war zunächst für Schüler und Lehrer, dann für alle Bürger unentgeltlich zugänglich. Hier hat 1995 Richard von Weizsäcker den Tag der Bibliotheken begründet. Der Slogan „Local access to global information“ ist in seinen beiden Teilen gleich wichtig – und ich freue mich sehr, dass beide auf dieser für mich so bewegenden Feier auch präsent sind. – Als Beweis darf mein Laudator, der Autor und Starfighter-Pilot Jochen Missfeldt gelten, dessen autobiographisch gefärbter Erzähler in seinem jüngsten Roman „Steilküste“ sehr gerne auf dem Riesenrad des ländlichen Jahrmarktes fährt, bevor er sich wieder auf die Spur einer Episode der deutschen und der Weltgeschichte macht. Was der globale Informationsaustausch, was digitale Informationsnetze, was Interkulturalität und Weltkultur und seine Vertreter wie Funktionäre wert sind, wird an ihrer Zugänglichkeit, ihrer Teilhabe, ihrer Glaubwqürdigkeit und Wirkung auf lokaler Ebene – dazu zählt das Dorf in Angeln wie der Stadtteil in Hamburg – entschieden. Es ist mir immer wichtig gewesen, dass ich bei „Bücherrunden“ vor den mächtigen und einflussreichen Schleswig-Holsteiner Landfrauen, bei wissenschaftlichen Vorträgen an Hochschulen und auf Weltkongressen der Library and Information Community, auch in wirtschaftlich orientierten Verhandlungen der gleiche Vision folgte und nicht der Versuchung erlag, diese Sphären mit billigen Pointen gegeneinander auszuspielen.

Kindheit, Jugend, Schulzeit sind in aller Regel „local“. Seit der Europäischen Aufklärung gilt es zu gewährleisten, dass Kinder und Jugendliche, dort, wo sie aufwachsen, kulturelle Bildung erfahren – mit Medien, die ihrem Entwicklungsstand entsprechen. Die Geschichte der Kinder- und Jugendmedien, die Geschichte der westdeutschen Kinder- und Jugendbibliotheken nach 1945 ist eine Erfolgsgeschichte ohne gleichen. Es war an Glücksfall für mich, dass ich daran teilnehmen durfte. Aber allen Kommunal- und Kulturpolitikern – gleich welcher Couleur – sei mit Nachdruck versichert, dass diese Erfolgsgeschichte nicht eine Konsequenz engagierter Familien-, Bildungs- und Kulturpolitik, sondern vielmehr das Ergebnis eines bunten Flickenteppichs kleiner und kleinster Projekte, Aktivitäten und einer langsamen Professionalisierung dieses Arbeitsbereiches bei Autoren, in Verlagen, Schulen, Buchhandlungen, Elterhäusern, Bibliotheken, Akademien war. Bundespolitisch und auf föderativer Ebene hat erst die PISA-Studie – eine politische Vergleichsstudie, die Plätze verteilte – diesem wichtigen Arbeitsfeld Respekt verschafft. Zwischen dem Bundesjugendplan von 1955/56 und den Konsequenzen aus der PISA-Studie gab es kein staatliches Förderprogramm zur Leseförderung, Jugendliteratur und Kinderbibliothek. Wie quer die föderative Kultur- und Bildungspolitik zum „local access to global information“ liegen kann und wie wichtig daher die kommende Föderalismus-Debatte auch für den kulturellen Auftrag der Bibliotheken wird, zeigen die Bemühungen um moderne und leistungsgerechte Schulbibliotheken. Gemeinsam mit vielen anderen bin ich mit meinen Bemühungen um Schulbibliotheken seit 35 Jahren immer wieder gescheitert. Geht man über Good-will-Erklärungen hinaus und sucht nach verbindlichen Zuständigkeiten, müssen die vier norddeutschen Länder passen. Wenn eine Hamburger Schule eine Schulbibliothek mit Service-Leistungen wissenschaftlicher Natur einrichten will, müsste sie sich eigentlich mit drei Senatoren/Senatorinnen kurzschließen (Wissenschaft, Bildung, Kultur). Warum das so ist, kann ich Ihnen wortreich historisch, politisch und psychologisch analysieren. Ich kann Ihnen auch eine Langzeitstrategie für einen Masterplan „Deutsche Schulbibliotheken“ entwickeln. Aber inzwischen helfe ich lieber, zusammen mit Studenten eine kleine Schulbibliothek im Rahmen des heute möglichen einzurichten.

„Global information“ ist von den Bibliotheken durch die Jahrtausende ihres Bestehens sehr unterschiedlich interpretiert worden. Die Bibliothek von Alexandria glaubte sich sicher, mit ihren Schriftrollen das gesamte Wissen der Welt zu besitzen. Mit den französischen Enzyklopädien der Aufklärung war ein Medientyp gefunden, der dem alphabetisierten Citoyen die Welt ins Haus brachte. Die hybriden Bibliotheken der Gegenwart, die digitalen Weltbibliotheken der nahen Zukunft träumen den gleichen Traum. Diesen Traum träume ich auch. Für Bibliotheken weltweit tätig zu sein, ist ein großes Abenteuer -allerdings ganz anderer Art als in den Abenteuerromanen nachzulesen ist. Für meine Generation bedeutete es zum Beispiel in dem Jahrzehnt 1970 bis 1980 von ausländischen Kollegen intensiv angeschaut zu werden, um mit dem Alter auch den möglichen Grad der Mitschuld an den Verbrechen des sogenannten Dritten Reiches ablesen zu können. Es bedeutete, von skandinavischen und angelsächsischen Vorbildern – in meinem Falle von vielen dänischen Kolleginnen und Kollegen – zu lernen, aber gleichzeitig einen Weg zu finden, der in der jungen Bundesrepublik Deutschland gangbar war. Es bedeutete, bilaterale Beziehungen ganz unterschiedlicher Art aufzubauen: in den USA der Schüler, in Südtirol Berater zu sein – und wieder Schüler zu werden. Denn Südtirol ist inzwischen der europäische PISA-Sieger und besitzt eine ausgezeichnete schulbibliothekarische Infra-Struktur. Manchmal bedeutete es auch schuldig zu werden – z.B. im abgebrochenen Kontakt zu den Bibliotheken der CSSR nach 1968. Internationale Bibliothekspolitik ist Politik, das zeigte sich besonders, als wir mit EBLIDA eine bibliothekarische Interessen-Vertretung bei der EU aufbauten. Es war nicht einfach zu begreifen und noch schwerer zu erklären, was deutsche europäische Bibliothekspolitik ist: das wohlausgewogene Neben- und Ineinander der Förderung europäischer Gemeinsamkeiten und deutscher Eigen-Interessen im europäischen Raum. Die Urheberrechts- und Copyright-Fragen der digitalen Medien sind dafür das beste Beispiel.

Die deutsch-deutsche Bibliotheksintegration nach der Wende lief zunächst für nicht wenige Bibliotheken und Bibliothekare auch nach den Spielregeln bilateraler Verhandlungen ab – und so mancher wäre gerne dabei geblieben. Wenn es wahr ist, dass einige Kollegen der Bundesrepublik Deutschland an dem Abend, als die Mauer fiel, schon entschieden, welche Bibliothek sie „drüben“ leiten wollten, so ist es auch wahr, dass ich sofort wusste, was nun begann: der Aufbau einer deutschen Bibliothekslandschaft, die es auch vor 1933 nicht gegeben hatte – aber jetzt geben konnte! Der erste Kontakt, den ich in bibliothekspolitischer Mission wahrnahm, fand am 09.12.1989 im Zentralinstitut für Bibliothekswesen der DDR statt. Dann gab es mehrere Stränge der Annäherung, an denen ich beteiligt war: Lehrtätigkeit in Leipzig durch einen Dozenten-Austausch, gemeinsame Kongresse, ministerielle Planungen. Dazu freundschaftliche und kollegiale Begegnungen, z.B. mit der Leiterin der Stadtbibliothek meines Geburtsortes Mühltroff im Vogtland. Ich bin mir natürlich bewusst, dass die Last und die Mühen dieser Integration von unseren Kolleginnen und Kollegen der DDR getragen wurden. Aber für mich war es die erregendste, befriedigendste Zeit meiner ehrenamtlichen Tätigkeit zur Förderung der Bibliotheken. Um erfolgreich zu sein, mussten menschliche, fachliche, organisatorische, politische Aspekte eingebracht und zur Übereinstimmung gebracht werden. Ich wünsche diese Zeit nicht zurück – aber sie war wunderbar und ich erachte es als ein großes Privileg meiner Generation, am deutschen Einheitsprozess – auch der Bibliotheken und ihres kulturellen Auftrages – mitgewirkt zu haben.

Als ich 1969 in Tübingen mein Examen machte, war ein selbstgewähltes Prüfungsthema Macchiavellis „Il Principe“ – was die Professoren zu mildem Lächeln provozierte. Ich kenne die Macht. Mir steht die Freiheit höher und daher ist mir ihr Preis: Konflikte, verschlossene Türen, Misserfolge und Abgründe nicht fremd. Heute muss ich keinen Preis zahlen, heute wird mir einer verliehen.

Sie haben schon gemerkt, dass es die Anfänge sind, die mich faszinieren – nicht im Sinne des Hesse-Gedichtes als neuer Anfang nach dem Abschied, sondern als „unerhörte Begebenheit“, als neue Erfahrung, als ein unbekannter Weg zu einem selbstdefinierten oder akzeptierten allgemeingültigen Ziel. Für mich sind „Bibliotheken für alle“ ein solches Ziel.

Ich danke der Deutschen Literaturkonferenz für die so ehrenvolle Auszeichnung, ich danke, um es mit den Worten der brasilianischen Autorin Nelida Pinon zu sagen, „all‘ denjenigen,, die mir geholfen haben, die Welt zu verstehen“, alleine wäre ich nämlich hilflos. Dazu gehören die Familie, die Kolleginnen und Kollegen, meine Studentinnen und Studenten, die Nachbarn in Glücksburg und Hamburg und ein einzelner Herrn, der wieder einmal nicht genannt werden will.

Birgit Dankert

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